
Keine Masken mehr, keine Isolierung von Infizierten: Für Großbritannien ruft Premierminister Boris Johnson so etwas wie den Freedom Day reloaded aus. Dabei rollt die Omikron-Welle noch. Wie riskant ist der Weg und könnte Deutschland ähnlich lockern? Das sagt ein Epidemiologe.
Die Corona-Maßnahmen in England sollen fallen. Wieder feiern sie jenseits des Ärmelkanals einen Freedom Day oder eher Freedom Weeks. Premierminister Boris Johnson gab den Lockerungskurs vor: Schon seit Donnerstag sollten keine Masken mehr in Klassenräumen verlangt werden. Auch anderswo sollen Masken nicht mehr Pflicht sein, sondern eine private Entscheidung jedes Einzelnen.
Der konservative Politiker verkündete diese Woche: „Die Regierung ruft ab jetzt auch nicht mehr dazu auf, von Zuhause zu arbeiten.“ Die in Teilen der Tory-Partei verhassten Impfnachweise, gegen die etliche Abgeordnete im Dezember rebelliert hatten, sollen ab Mitte nächster Woche ebenfalls der Vergangenheit angehören.
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Kaum noch Corona-Maßnahmen in Großbritannien
Der britische Premierminister geht noch weiter: Johnson will die verpflichtende Isolierung für Corona-Infizierte in England in naher Zukunft vollständig abschaffen. „Es wird bald die Zeit kommen, in der wir die gesetzliche Verpflichtung zur Isolierung abschaffen können, genauso wie Menschen sich nicht gesetzlich isolieren müssen, wenn sie die Grippe haben“, erläuterte Johnson am Mittwoch im Londoner Unterhaus.
Die aktuellen Regelungen laufen zum 24. März aus. Wenn möglich, wolle er sie schon früher abschaffen. Erst vor wenigen Tagen hatte seine Regierung die Isolation auf fünf volle Tage verkürzt. Nordirland, Wales und Schottland hatten im Kampf gegen Omikron zwar auf schärfere Maßnahmen als England gesetzt, aber auch bereits Lockerungen angekündigt.
Was für Großbritanniens Lockerungen spricht
Ebenso rasant wie die Corona-Zahlen in die Höhe schossen, sind sie wieder gefallen. Die Länder Großbritanniens haben den Höhepunkt der Omikron-Welle überwunden. Die Infektionszahlen sind in den vergangenen zwei Wochen deutlich zurückgegangen. Die Inzidenz, die die Zahl der Neuinfektionen in der vergangenen Woche pro 100.000 Einwohner angibt, lag zuletzt bei 949 (Stand: 21.1.22). Zeitweise hatte sie um den Jahreswechsel die Marke von 2000 überschritten. Auch die Zahl der Einweisungen ins Krankenhaus geht aktuell leicht zurück.
Außerdem sinken die Testpositivraten. In der Woche bis zum 15. Januar lagen sie bei:
- 5,47 Prozent in England (1 von 20 Personen)
- 3,69 Prozent in Wales (1 von 25 Personen)
- 5,68 Prozent in Nordirland (1 von 20 Personen)
- 4,49 Prozent in Schottland (1 von 20 Personen)
Besonders entscheidend ist: Auf die Intensivstationen hat die Omikron-Welle nicht durchgeschlagen. Seit Mitte November sank die Patientenzahl dort auf rund 850. Zum Vergleich: Mehr als 4000 Intensivpatienten mit Covid-19 musste das britische Gesundheitssystem vor einem Jahr versorgen.
Ein weniger epidemiologisches als vielmehr politisches Argument steckt Kritikern zufolge aber mindestens ebenso hinter den weitreichenden Lockerungen. Johnson ist wegen Lockdown-Partys im Regierungssitz Downing Street heftig unter Druck geraten. Mit der aktuellen Exit-Strategie könnte der Premier also Hinterbänkler in seiner Partei besänftigen wollen.
Drei Grafiken aus Großbritannien machen Deutschland Hoffnung
Einige Parameter aus Großbritannien erlauben einen positiven Ausblick auch für Deutschland:
- Die Zahl der Neuinfektionen fällt nach dem Peak steil ab (New cases).
- Trotz hoher 7-Tage-Inzidenzen ist die Zahl der Intensivpatienten nicht angestiegen (Patients in ICU).
- Die Zahl der Todesfälle liegt deutlich unter dem Niveau des vergangenen Winters (New deaths).
Für Deutschland ist Großbritannien aktuell kein Vorbild – weil wir zu viele Ungeimpfte haben
In Deutschland ist der Peak allerdings noch nicht zu sehen. Von Lockerungen wie in Großbritannien sind wir hierzulande weit entfernt, meint der Epidemiologe Timo Ulrichs. Der wichtigste Unterschied sei die hohe Zahl an Ungeimpften unter den Älteren (älter als 60 Jahre) in Deutschland.
Aktuell sind rund 88 Prozent der über 60-Jährigen vollständig geimpft, 72 Prozent sind geboostert (Stand: 21.1.22). Circa drei Millionen dieser Altersgruppe haben jedoch keinen Impfschutz gegen schwere Erkrankung.
Diese Menschen zu schützen, sei der Hauptgrund für die Maßnahmen, die wir zurzeit wegen der Omikron-Welle einsetzen. „Hätten wir die nicht, könnten wir ähnlich lockern wie Spanien und nun auch Großbritannien“, beurteilt Ulrichs die Exit-Strategie des Vereinigten Königreichs.
Doch selbst dann ist sie riskant. Es sollte bei solchen Lockerungen nicht alles auf einmal erfolgen. „Zwar wollen wir in den Zustand des ‚Lebens mit dem Coronavirus‘ übergehen“, erläutert der Epidemiologe. Aber wenn weiter die Gefahr bestehe, dass es noch zu größeren Belastungen unseres Gesundheitswesens komme, sollten einige Maßnahmen bestehen bleiben. „Und das Schlüsselinstrument, das sagt ja auch der britische Gesundheitsminister in seinem neuen Programm, ist die Impfung.“
Wie gut geschützt die Risikogruppe der Älteren ist, war in Israels Vorbild ebenfalls der Knackpunkt. Bereits damals urteilte Ulrichs auf Nachfrage von FOCUS Online: „Es ist eine Gratwanderung.“ Der Großteil der Älteren, also der Risikogruppe, sei in Israel bereits dreifach geimpft. „Diese Menschen sind also sehr sicher geschützt vor schweren klinischen Verläufen“, erklärte der Epidemiologe. „Wenn diese Gratwanderung klappt, indem dabei also die Krankenhäuser nicht überlasten, wäre das für Israel ein gangbarer Weg durch die Omikron-Welle.“
Die riskante Exit-Strategie des Boris Johnson
Trotz positiver Signale, die sich erkennen lassen, gibt es in Großbritannien derzeit ein großes Aber. Ein Aspekt davon betrifft die Todeszahlen. Diese liegen zwar deutlich unter dem Niveau der vergangenen Winter-Welle. Aber die Zahlen steigen aktuell. Dass diese Kurve zeitlich erst nach den Neuinfektionen ansteigt, ist normal. Ob das niedrige Niveau also bleibt, muss sich erst zeigen.
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Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Gefahr, sich erneut mit Corona anzustecken. Das britische Statistikbüro berichtete: In der Omikron-Periode war das Risiko, einer Re-Infektion 16-mal höher als in der Delta-Periode. Vor allem traf es
- Ungeimpfte. Sie waren doppelt so gefährdet sich erneut anzustecken wie Menschen, die ihre Zweitimpfung 14 bis 89 Tage zuvor bekommen hatten.
- Menschen, deren Zweitimpfung länger als 90 Tage zurücklag. Sie waren gefährdeter als Menschen, deren Zweitimpfung erst vor 14 bis 89 Tage erfolgte.
- Genesene, die bei ihrer ersten Infektion eine geringe Virenlast hatten.
Mit der Zeit wird also die Gruppe derjenigen, die in diese Kategorien fallen, wieder wachsen. Insbesondere wenn jetzt alle Schutzmaßnahmen wegfallen, findet Omikron schnell wieder mehr „Opfer“.
Ganz so freiheitsverheißend wie Boris Johnson gab sich denn auch Großbritanniens Gesundheitsminister Sajid Javid nicht. Dieser kündigte einen Plan für das Frühjahr an, den er mit „Leben mit Covid-19“ umschrieb. Demnach sollen Tests, antivirale Medikamente und weitere Impfungen „die Ecksteine der künftigen Verteidigung“ gegen das Virus darstellen.
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